Motopädagogik

Motopädagogik

Wir sitzen gemeinsam auf dem Boden, vor uns ein riesiger Haufen Bierdeckel… Es wird gebaut, es wird gelacht, es wird gespielt. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Plötzlich fliegt links ein Bierdeckel vorbei, dann rechts, ich dreh mich um und sehe, dass keiner lang überlegt hatte: Die Bierdeckel fliegen in hohen Bögen durch den Raum. Es beginnt eine wilde Bierdeckel Schlacht. „Stoooop!“ – höre ich es am anderen Ende des Raumes rufen: „Ich mag das nicht!“.

Wenn das für dich nach einem wilden Kinderhaufen klingt, muss ich dich leider enttäuschen. Es waren 14 Erwachsene. Für 9 Stunden vereint für den Motopädaogik Workshop, die dabei zu solch verspielten Kindern wurden, wie sie es selbst nicht für möglich gehalten hätten.

Aber fangen wir doch mal ganz am Anfang an…
Ich war bei der herzlichen und fröhlichen Veronika in ihrer Praxis „Sensorische Integration – bewegt“ zu einem Workshop. Sie ist selbst akademische Expertin für Sensorisch Integrative Mototherapie.
Und eines kann ich sagen – in den 9 Stunden sind wir nicht so viel auf den Stühlen gesessen, wie wir es uns gewünscht hätten. Wir sind ordentlich ins Keuchen gekommen. Und deswegen gibt es jetzt einiges was ich euch gerne über die Motopädagogik erzählen möchte, denn diese Stunden haben Eindruck hinterlassen.

Was ist Motopädagogik?

Ganz trocken erklärt ist die Motopädagogik die psychomotorische Entwicklungsbegleitung von Kindern und Jugendlichen. Im Zentrum des Konzepts steht die Bewegung. Sie ist das ausschlaggebende Element für die Entwicklung. Nicht nur der körperlichen, sondern vor allem auch der persönlichen Entwicklung. Es gibt 3 Erfahrungen, auf die die Bewegung (vor allem im Setting einer Motopädagogik Stunde) einen positiven Einfluss nimmt:

Körper
ERfahrung

Bei jeder Bewegung spüren und erleben wir unseren eigenen Körper.

Material
ERfahrung

Wir erkunden die Umwelt, indem wir mit Material experimentieren.

Sozial
Erfahrung

Wir erleben uns und andere in unmittelbarer Beziehung zueinander.

Lasst uns diese Bereiche nun etwas genauer unter die Lupe nehmen und uns dabei auch ansehen, was bei einer Motopädagogik Einheit gestaltet werden kann.

die Kurzformel

Hier wurde es so richtig spannend für mich. Bisher hatte ich noch nie so intensiv über die Auswirkungen von Bewegung nachgedacht.

Bewegung ist ein Prozess, der Erfahrungen mit sich bringt. Diese Erfahrungen knüpfen an Bekanntem an und sorgen für Erlebnisse und diese (unbewussten) Selbsterkenntnisse:

Ich tue
Ich kann
Ich bin

Etwas ausführlicher erläutert: Ich lerne, dass ich selbst tätig sein kann und dadurch meine Umgebung gestalten und beeinflussen kann. Wodurch meine Identität entsteht und ich ein Bewusstsein über mein Selbst bilde.

Mit diesem Elementen baut das Kind also eine gesunde Selbstwirksamkeit (mein Lieblingswort – darüber habe ich ja schon so oft gesprochen. Hier), weil es lernt Probleme selbstständig zu lösen und sich dadurch Selbstvertrauen aufbaut.

Grundregeln

Wenn wir – als Pädagog:innen oder Eltern – in die Motopädagogik einsteigen wollen, sollten wir uns der Grundgedanken und damit verbunden, der Regeln bewusst sein.
Auch wenn die ein oder andere selbstverständlich klingt, gehört sie zum Gesamtkonzept dazu.

  1. Alles was das Kind tut, tut es freiwillig!
  2. Gib dem Kind Raum und Zeit sich zu entfalten, im eigenen Tempo
  3. Das Angebot muss so gesetzt werden, dass Kinder darin selbstständig aktiv werden dürfen.
  4. Ziel ist: Unterstützung und Begleitung in Entwicklungsprozessen zu geben
  5. Die Kinder werden eingeladen, nicht aufgefordert, etwas zu tun
  6. Lobe das Kind nicht, aber nimm Anteil an dessen Erfolgen (freudiges „Jaa“ oder „Geschafft“ oder auch nur ein Lächeln

Motopädagogik Einheit

Gehen wir mal durch, wie so eine Einheit – ob jetzt mit vielen oder wenigen Kindern bzw. Erwachsenen – aussehen könnte.

So wie auch die Erfahrung, teilt sich auch das Konzept einer Motopädagogik Einheit in 3 Bereiche.

Körpererfahrung

Am Anfang dürfen wir uns bewegen. Intensiv.

Hier bieten sich klassische Rennspiele an. „Versteinern“ ist so ein Klassiker aus meiner Kindheit. Das Spiel kann man in zig verschiedenen Variationen spielen. Zum Beispiel: Der Fänger versteinert. Versteinerte können befreit werden, indem der Befreier am Boden durch die Beine krabbelt. Oder Versteinerte werden von 2 Sanitätern zu einer Matte hingetragen. Welche Variante habt ihr immer in der Schule gespielt?

Es bieten sich jedoch auch klassische Fangen-Spiele an. Alternativ gehen auch auch Stop & Go Spiele. Ich lass an dieser Stelle deiner Kreativität freien Lauf (falls dir die Ideen fehlen bietet der Workshop von Veronika unendliche viele Spielvorschläge).

Unter dies Körpererfahrung fallen auch jeglichen Spiele, die in Richtung Tiefenwahrnehmung gehen. Hier geht es um Kraft, Gewicht, Balance usw. Es gibt Spiele bei denen sich die Kinder gegenseitig halten oder tragen müssen, sich stapeln oder raufen. Wichtig sind die Regeln und klare Stop-Signale. Ansonsten dürfen die Kinder hier ruhig ihre Fähigkeiten testen.

Doch auch sanfte Erfahrungen am Körper zählen hierzu: sich mit Gegenständen bedecken, den Körper umranden, schminken oder eincremen, massieren usw.

Ziel ist es: sich zu spüren. Sei es, weil man mal so richtig außer Puste ist, weil man jedes Körperteil benutzt hat oder seine Sinne schärft. Es geht um die Bewegung.

Materialerfahrung

Nachdem die Kinder sich ausgetobt haben, den Körper richtig in Bewegung gebracht haben, sind sie bereit für die nächste Phase.

Denks mal an einen ganz banalen Gegenstand. Schau dich jetzt gerade mal um – was siehst du? Einen leeren Joghurt Becher? Eine Klopapierrolle? Dein leeres Amazon Paket? Untersetzer? Wäscheklammern?

Und jetzt stell dir vor: Von einem diesem Gegenstand liegen 50 vor dir – und sie sind deine einzige Beschäftigung!
Was denkst du, wie viele Dinge dir einfallen, die du damit machen kannst?
Eines kann ich dir versprechen: nicht so viele wie einem sechsjährigen Kind, garantiert! Die Kreativität von Kindern ist beeindruckend grenzenlos.

In diesem Abschnitt der Motopädagogik Stunde geht es nur darum fantasievoll und kreativ sein!

Du sammelst also in den nächsten Wochen mal reichlich „Zeug“ an – und dann schaust du, was deine Kinder daraus so Tolles zaubern können.

Lege das Material (und wirklich nur das Material) in den Raum und ziehe dich etwas zurück. Natürlich darfst du noch immer eingreifen, wenn es die Situation erfordert. Aber du bist jetzt nicht mehr aktiv dabei – du gehst lieber in die Beobachtung.

Staune über die großartigen Einfälle der Kinder.

Sozialerfahrung

Am Ende geht es darum, dass wir eine Gemeinschaft sind, dass wir zueinander finden, uns verbunden fühlen und gemeinsam erfolgreicher sind.

Was für eine schöne Botschaft dieser Abschnitt hat. Sie zieht sich eigentlich durch die ganze Stunde. Jetzt verstärken wir dieses Element gezielt, in dem wir Spiele oder Aufträge nutzen um den Fokus auf die Gemeinschaft zu lenken.

Zum Beispiel kann das Material aus dem letzten Abschnitt gut genutzt werden um ein Partner- oder Gruppenspiel zu spielen. In unserer Einheit haben wir den Auftrag bekommen aus den Bierdeckeln ein Kunstwerk zu machen. Gemeinsam entschieden wir uns für das Gestalten eines Mandalas.

Wenn die Kinder offensichtlich noch Energie haben, kann man auch neuerlich etwas Bewegung einbringen. Durch „hieße Kartoffel“ oder „Sitzplatz Spiele“ bei denen ein Sitz frei ist und es darum geht wer ihn zuerst kriegt. Auch hier verweise ich gerne auf Veronika, die hier unglaubliche Spielideen im Workshop teilt.

Reflexion

Abgerunder wird alles in einem gemeinsamen Gesprächskreis. Hier darf jeder sagen, was ihm/ihr wichtig ist, gerade mitzuteilen. Sei es ein Konflikt, der noch geklärt werden soll, positives oder negatives Feedback zur Einheit oder auch andere Themen, die man gerne noch ansprechen würde.

Fazit

Was mich schließlich den Bogen spannen lässt zu meinem eigenen persönlichen Fazit.

Mit zwei Jungs, die beide noch Kleinkinder sind, ist es mir nicht neu, dass Bewegung ein unglaublich wichtiges Element für Kinder und ihr Großwerden ist. Trotzdem war ich nach dem Tag bei Veronika einfach nur baff, welche Kraft in der Bewegung steckt.

Wir – die Erwachsenen – spielten den ganzen Tag. Rennen, toben, lachen, fallen, schmeißen, ruhen, quatschen. Es war allgegenwärtig. Und das faszinierenste: wir gingen alle mit dem beeindruckenden Gefühl hinaus, dass wir schon sehr lange andere Erwachsene nicht mehr soooo gut kennen gelernt haben.
Gleichzeitig fand ich es äußert spannend, dass wir Erwachsenen so schnell ins kindische reingekippt sind, dass wir sogar mit Bierdeckeln geworfen haben und nahezu ein Streit entstand, weil Leute abgeschossen wurden, die das nicht wollten.
Mir kam die Erkenntnis, wie hoch wir wieder mal die Erwartungen an Kinder stellen, vorher zu fragen, Rücksicht zu nehmen… und sehr erleichternd nun zu wissen, dass wir Erwachsenen genauso im Affekt mal falsch handeln.
Wichtig ist nur, danach im Reflexionskreis eine Entschuldigung nicht zu vergessen.

Während des Spielens haben wir die anderen und uns selbst auf eine faszinierende Art wieder entdecken können. Haben erkannt wer der andere ist, wie wir selbst sind und uns dabei so unglaublich stark gefühlt!

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